Überlebtes abtun und das gute Alte in die neue Truppe hinüberführen Prof. Dr. Michael Epkenhans Spätestens seit Friedrich Meinecke, der Nestor einer liberalen Geschichtsschreibung in Deutschland in seinen Betrachtungen zur „Deutschen Katastrophe”, geschrieben unter demEindruck der Ereignisse zwischen 1933 und 1945, auch den preußischen Generalstab für all das, was folgte, verantwortlich machte, konnte man den Eindruck gewinnen, dass das Militär wohl nie wieder als irgendeine Art von sinnstiftendem Element im politischen und gesellschaftlichen Diskurs würde instrumentalisiert werden würde. Gleichwohl, verschwunden war das Bedürfnis, trotz der Katastrophe auch im militärischen Bereich Vorbilder zu finden, nie. Die Bücher und Filme, die den schlauen „Wüstenfuchs” Erwin Rommel oder die ehrbaren „Ritter der Tiefe” wie Günther Prien zum positiven Gegenbild mordender SS -Horden stilisierten, sind nur einige Beispiele für dieses Bestreben in einer vom Kriege traumatisierten Öffentlichkeit. Auch diejenigen, die im Westen im sich zuspitzenden Kalten Krieg den Weg für den Aufbau der Bundeswehr planten, dachten gerade auch vor dem Hintergrund der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges schon früh über „Vorbilder” und „Traditionen” nach, die man hervorheben bzw. an die man anknüpfen konnte, ja aufgrund der eigenen Vergangenheit musste. Eindrucksvoll nachzulesen ist diese Debatte u.a. in den Beratungen des Verteidigungsausschusses. Im Sommer 1953 trug dort der damalige Generalleutnant a.D., Adolf Heusinger, über die Grundlinien des Aufbaus der zukünftigen Bundeswehr vor. Unter „Drittens” hieß es dort zum einen, ,,die Truppe muss erzogen werden – ( … ) – im europäischen Gedanken zu leben und zu wurzeln, und zwar nicht nur mit einem Lippenbekenntnis, sondern wirklich aus der inneren Überzeugung heraus, dass nur in der Form einer Vereinigung der Völker Europas die Zukunft Europas sichergestellt werden kann und Gefahren vermieden werden, die uns andernfalls vom Osten drohen könnten.” „Die Truppe muss ferner”, so fuhr er fort, ,,all die bösen Entwicklungen, die in früherer Zeit hier und da gewesen sind, klar erkennen und muss die Folgerungen ziehen, diese bösen Erfahrungen auszuwerten, und zwar so auszuwerten, dass sie nicht wieder eintreten. Sie muss dazu überlebte Dinge abtun, sich von überlebten Dingen trennen. Sie muss aber auch genauso gutes und bewährtes Altes übernehmen. Es ist nicht alles so, dass alles, was militärisch war, schlecht war, sondern es waren sehr viele Dinge absolut ausgezeichnet, und sie müssen auch wieder so werden. Überlebtes abtun und das gute Alte in die neue Truppe herüberretten, das wird die Aufgabe sein, die die Truppe zu erfüllen hat.” Wer diese Sätze aus der Rückschau von mehr als sechzig Jahren liest, der spürt den inneren Konflikt in Heusinger, der hier zweifellos stellvertretend für viele ehemalige Soldaten gesprochen hatte. Das Bekenntnis zu Europa fiel ihnen vor dem Hintergrund des Koreakrieges und der Bedrohung aus dem Osten leicht; die klare Distanzierung von einem Regime, dem man selbst gedient und an dessen Verbrechen auch dessen Armee, ja man selbst direkt oder indirekt beteiligt gewesen war, hingegen nicht. Das galt auch für die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, der sich unter Leitung von Franz Josef Strauß in zwei langen Sitzungen intensiv mit der Frage der Tradition befasst hat. ,,Eine echte Tradition”, so argumentierte Oberst a.D. Graf Kielmannsegg, ,,muss man haben wegen der Kontinuierlichkeit des Guten. ( … ) Tradition darf nur soweit gehen, als das Gewesene noch eine innere Kraft hat und für das Zukünftige von Bedeutung sein kann.” Über alle Parteigrenzen hinweg einig waren sich die Abgeordneten über die Bedeutung von „Freiheit”, ein Begriff, unter den sie auch die „Menschenwürde”, ,,Gerechtigkeit” und ,,freiheitliche Lebensordnung” subsumierten. Aber auch Tugenden wie „Treue, Tapferkeit, Gehorsam und Disziplin”, seien, so Franz Josef Strauß, als sog. ,,Selbstverständlichkeiten” Teil der Tradition. Epkenhans zum Traditionsbegriff Das Ergebnis dieses Ringens zwischen denen, die einen – freilich sehr unscharfen – Traditionsbegriff befürworteten und jenen, die wie manche Abgeordnete gerne an einem ,,Nullpunkt” angefangen hätten, war eine unentschiedene Haltung. Ein genialer Ankerpunkt in dieser Debatte und letztlich bis heute war der Rückgriff auf Scharnhorst und die preußischen Reformer. Mit Scharnhorsts Motto: ,,Tradition hat es zu sein, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren”, das Graf Kielmannsegg in die Debatte eingeführt hatte, konnten sich alle einverstanden erklären. Scharnhorst und seine militärischen und zivilen Mitstreiter waren dann auch die gedankliche Folie, vor deren Hintergrund sich die Gründung der Bundeswehr am 12. November 1955, am Tag seines 200. Geburtstages, dann vollzog. Scharnhorst Streben, die politische und gesellschaftliche Realität seiner Zeit kritisch zu hinterfragen und nicht locker zu lassen bei der Reform des Bestehenden, sein Versuch, Armee, Staat und Gesellschaft zu synchronisieren, um das einst berühmte preußische Heer wieder schlagkräftig zu machen; sein Wille, aus dem Soldaten einen Staatsbürger, aus dem Staatsbürger wiederum einen überzeugten Soldaten zu machen sowie diesen in der Armee auch als Staatsbürger und nicht mehr als Untertan zu behandeln, passten in den Kontext der Gründungsphase der jungen Bundesrepublik wie auch ihrer Bundeswehr, die Kadavergehorsam durch Innere Führung, nicht hinterfragte Traditionen durch eine bewusste Auswahl von Normen, die sich an den freiheitlichen Werten der Aufklärung orientierte, ersetzen wollte. Und auch wenn die Reformer in keinem Traditionserlass erwähnt werden, so haben alle politisch und militärisch Verantwortlichen bis heute an dieser Deutung festgehalten. Sie, verehrte Frau Bundeministerin, haben diesen Konnex in einem Grußwort für eine Scharnhorst-Broschüre vor wenigen Jahren unter Rückgriff auf diese Überlegungen der Gründerväter noch einmal ausdrücklich hervorgehoben. Gleichwohl: So wichtig die Anknüpfung der Gründerväter an die preußischen Reformer, so unumstößlich deren Bekenntnis zu den Werten des Grundgesetzes war, so wichtig war diesen auch das Festhalten an überlieferten und von vielen Zeitgenossen verinnerlichten und selbst erfahrenen klassische militärischen Tugenden und den „Helden”, die sie verkörperten. Diese galten einer großen Mehrheit, zumal in der Truppe, gleichermaßen als sakrosankt. Anders sind viele Kasernennamen, die nach innen wie nach außen den Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart symbolisieren sollten, nicht zu erklären. Und darin unterschied sich die Bundeswehr auch gar nicht von der Zivilgesellschaft des Wirtschaftswunders und der Westintegration im Zeichen des Ost-West-Gegensatzes: So wie die Hindenburg-, Bismarck- und Moltkestraßen, die sog. ,,Heldenviertel” wie in Münster, Freiburg, Berlin und anderswo erhalten blieben, so trugen auch viele Kasernen bald wieder deren Namen. Ein erster Traditionserlass versuchte 1965 dem um sich greifenden „Wildwuchs” Einhalt zu gebieten, ein zweiter 1982 dem politischen und gesellschaftlichen Wandel sowie neuen Erkenntnissen der Forschung Rechnung zu tragen. Das Ergebnis war dann jener Erlass, über den wir heute – zu Recht – wie ich meine, diskutieren. Warum? Der Erlass von 1982 hat ein klares Bekenntnis abgelegt im Hinblick auf den Maßstab, der bei der Bildung von „Traditionen” anzulegen ist – das Grundgesetz und […]
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