Ein Stolperstein für einen Systemtreuen Oberst der Wehrmacht, der bei einem Unfall ums Leben kam? Das scheint auf den ersten Blick völlig abwegig – ist es aber nicht, wenn man dem Bürgermeister der Stadt Rotenburg Andreas Weber Glauben schenken darf. Nach einer Abstimmung im Rat der Stadt zur Frage der Umbenennung der Lent-Kaserne fasste der Bürgermeister das Votum des Rates am 16. November 2016 in einem Memorandum wie folgt zusammen und ergänzte es um eine “weitere Sinnstiftung”:
(…) bezugnehmend auf die vielen Schreiben von Herrn Knab, dazu vom Chef des Stabes Kommando Heer, Herrn Generalmajor Mais, und der Empfehlung des Stadtrates der Stadt Rotenburg bzgl. der Namensgebung/-beibehaltung der Lentkaserne schlage ich folgendes zur Begründung einer weiteren Sinnstiftung vor:
1. Uns liegt eine kritische Geschichtsaufarbeitung und -erinnerung sehr am Herzen.
2. Um diese zu fördern, ist es sinnstiftend, den Namen beizubehalten, weil
2.1. der Name Helmut Lents bereits über 50 Jahre mit der Kaserne in Rotenburg in Verbindung stand,
2.2. der Name Helmut Lents auf den menschenverachtenden Umgang auch mit Soldaten und deren Familien in der Zeit des 3. Reiches hinweist,
2.3. ein neuer Name die Geschichte und Erinnerung an die Geschichte für die kommenden Generationen vollkommen ausblendet,
2.4. der Name der Lentkaserne ein zusätzlicher „Stolperstein” als Anregung eines kritischen Geschichtsbewusstseins gelten sollte und
2.5. dazu eine Informationstafel an dem Namensstein der Lentkaserne aufgestellt werden sollte, der die Geschichte Helmut Lents und seiner Familie im 3. Reich nach den Erkenntnissen des ZMS beleuchtet.
Damit würden wir das kritische Geschichtsbewusstsein der Soldaten erhöhen, die Tradition des Kasernennamens der letzten 50 Jahre aufrecht erhalten und gleichzeitig der Stadt Rotenburg die Möglichkeit geben neben den Erinnerungsstätten an den Holocaust (Jüdischer Friedhof,
Cohnscheune, Holocaustgedenkmal am Rathaus, Kriegsgräberstätte am Waldfriedhof und den zahlreichen Stolpersteinen) auch an der Lentkaserne an die Zeit im 3. Reich erinnern. Ich würde dieses gerne in die Diskussion In der Stadt Rotenburg zukünftig mit einbringen wollen und mich darüber freuen, wenn Sie meinen Vorschlag im Kreise der Soldatinnen und Soldaten diskutieren und mir Ihre Meinung dazu zeitnah zurückzumelden würden.
An diesem Memorandum fallen verschiedene Begriffe in einem ungewohnten Kontext auf: die “weitere Sinnstiftung”. Sinnstifung ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit dem “Prüfauftrag” der Soldaten der Liegenschaft Einzug in die Diskussion genommen hat. Die Soldaten prüfen, ob der Namensgeber Oberst Lent noch “sinnstiftend im Sinne des gegenwärtigen Traditionsverständnis” ist, wie das Kommando Heer schrieb.
Hierzu hat der Bürgermeister einen Vorschlag, den er der Kaserne unterbreitet:, nämlich dass der Name Helmut Lents “auf den menschenverachtenden Umgang auch mit Soldaten und deren Familien in der Zeit des 3. Reiches hinweist.” Er bittet also, die Soldaten, die Kaserne nicht umzubenennen, damit neben das Eingangstor, neben das Namensschild eine “Informationstafel” aufzustellen, die “an die Zeit im 3. Reich erinnern” soll.
In einer Radiosendung erläuterte er seine Haltung gegenüber Lent:
“(…) der Name Lent selbst und wie man eigentlich mit einer solchen Person auch umgeht, die während des Nationalsozialismus als Flieger, als Nachtjäger unterwegs gewesen ist und dort Aufträge dann wahrgenommen hat und dann auch erfüllt hat, wie es von Soldaten dann auch gefordert ist …. Das Militärwissenschaftliche Institut in Potsdam sich mit dieser Frage auch auseinandergesetzt hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass er wohl eher nicht ein Nazi gewesen sei. Natürlich man ihm natürlich vorwerfen muss, dass er damals auch in einer solchen Zeit, eines solchen diktatorischen Systems Menschen getötet hat. Was es aber auch in anderen Systemen, sag’ ich mal, immer wieder die Aufgabe eines Soldaten ist, dass er, wenn er sein Land verteidigt, dass er dann auch natürlich solche negativen Dinge dann auch mit erforderlich sind.(…)
Auf eine Beschwerde hin gab der Bürgermeister eine Stellungnahme ab. Darin schrieb Andreas Weber:
“In der Sitzung des Stadtrates vom 29. September 2016 habe ich sinngemäß davon gesprochen, dass ich mich dafür ausspreche, dass der Name der Kaserne erhalten bleiben solle und an der Namensbezeichnung der „Lentkaserne„ vor der Kaserne ein Informationsschild zusätzlich befestigt werden sollte, damit auch dort eine Erinnerung für unsere Nachkommen vorhanden bleibt, was in der damaligen Zeit des 3. Reiches passiert ist
und Soldaten für die Stützung eines totalitären Systems benutzt wurden. Solche Erinnerungen seien an den verschiedenen Orten, wie an der Lentkaserne und auch an einzelnen Straßenbezeichnungen (z.B. Buhrfeindstraße), für den Erhalt und die Bildung eines kritischen Geschichtsbewusstsein erforderlich, wie dieses beispielsweise auch durch die „Stolpersteine” oder ebenso durch Informationstafeln an anderen Orten in Rotenburg beispielhaft geschieht. Solches habe ich auch in dem anliegenden Schreiben so formuliert. ”
Man muss vielleicht unterscheiden, was für “Soldaten sinnstiftend im Sinne des gegenwärtigen Traditionsverstänsnisses ist” – und was aus Sicht eines Bürgermisters “sinnvoll” erscheint. Hier wird der Begriff “Sinnstiftung” aus dem Zusammenhang gerissen. Tradition ist der Kern der Erinnerungskultur der Bundeswehr. Traditionspflege ermöglicht das Bewahren und Weitergeben von Werten und Vorbildern, die sinnstiftend sind.
In diese Erinnerungskultur der Bundeswehr greift Andreas Weber mit seinem Vorstoß für eine “weitere Sinnstiftung” ein, wenn er schreibt, dass der menschenverachtenden Umgang auch mit Soldaten und deren Familien in der Zeit des 3. Reiches hinweist. Andreas Weber dokumentiert hier eine beschränkte Sicht auf den “Ausnahmesoldaten” und den “unvergänglichen Helden” des NS-Propganda und der euphemistischen Heldenvereehrung der Nachkriegsliteratur. Lent diente 50 Jahre als “Held” und persönliches Vorbild dient. Das Vorzimmer des Kasernenkommandanten zierte bis vor wenigen Monaten der Leitspruch “mehr sein als scheinen”, den Divisionskommandeur Generalmajor Ibel auf der Beerdigung Helmut Lents zitierte: Moltkes Leitspruch “mehr sein als scheinen” war auch der seinige. Und diejenigen, die ihn kennen, werden es bezeugen: Es gab „ keinen” liebenswerteren und zuverlässigeren Kameraden und besseren Erzieher und Vorgesetzten seiner Männer. Sein Glaube an den Sieg und unsere Gerechte Sache war felsenfest. Dieser Glaube lag begründet in seiner heißen Liebe zur Heimat und seiner unübertrefflichen Treue zum Führer uns seiner Sache.
Webers Einschätzung
Im Interview mit dem NDR sagte Andreas Weber:
“Es hat, und ich bin hier in Rotenburg 1957 geboren worden, in meiner Erinnerung nicht einmal irgendetwas an glorifizierendem oder heroischem Hochhalten des Namens Lent oder seiner Person hier in Rotenburg gegeben”
Was Andreas Weber nicht anerkennt, ist dass bereits die Benennung einer Kaserne nach einem “Fliegerass” des zweiten Weltkrieges ein “glorifizierendes oder heroisches Hochhalten” des Namens Lent und seiner Person darstellt.
Weitere Hinweise finden wir in den Stellungnahmen von Landrat Hermann Luttmann und Jürgen Dehn im Weserkurier:
Luttmann, der selbst zwei Jahre lang in der Kaserne gedient hat, macht sich die Position von Generalstaatsanwalt a. D. Jürgen Dehn zu eigen, der in seiner Expertise über Lent zu folgendem Ergebnis kommt: „Allein die Tatsache, dass Lent in großer Zahl britische Bomber abgeschossen hat, macht ihn (Anm. d. Red.: als Namensgeber) nicht ungeeignet.“ Lent habe die Zivilbevölkerung in den deutschen Großstädten vor den massiven Luftangriffen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg verteidigt. Die Person Lent zeige, wie fliegerische Begeisterung und soldatische Pflichterfüllung zu einer Verstrickung in ein Unrechtsregime führten. Dehn: „Er war ein guter Soldat im Dienst einer schlechten Sache.“ Dehn zufolge war Lent nicht einmal Mitglied der NSDAP.
Die Tätigkeit und Funktion Lents wird hier reduziert auf “die Zivilbevökerung verteidigen” – er war am Polen-Feldzug, dem Norwegen-Feldzug, dem Angriff auf England sowie der Verteidigung von “kriegswichtiger Infrastrukturen”. Die alliierten Luftangriffe von 1939 bis 1945 waren einerseits die Reaktion auf die militärische Aggression des nationalsozialistischen Deutschlands in Europa, insbesondere gegen Westeuropa und den transatlantischen Handelsverkehr, andererseits eine Umsetzung der Trenchard-Doktrin. Anfänglich wurden die Angriffe von alliierter Seite nur taktisch geführt, nach dem die Deutsche Luftwaffe wie bereits zuvor im Spanischen Bürgerkrieg (Luftangriff auf Gernika) strategische Bombardements gegen feindliche Städte flog (zum Beispiel Bombardierung Warschaus, Bombardierung von Rotterdam, Bombardierung Londons und anderer britischer Großstädte), ging man ab 1942 auf alliierter Seite zu einem strategischen Einsatz der Luftstreitkräfte mit Flächenbombardements über.
Basierend auf den Beschlüssen der Casablanca-Konferenz wurde in der Combined Bomber Offensive eine Arbeitsteilung mit Nachtangriffen des RAF Bomber Command gegen Flächenziele und Tagangriffen der United States Army Air Forces (USAAF) gegen Punktziele festgelegt. Die Luftangriffe hatten zum Ziel, Infrastruktur und kriegswichtige Industrie im Deutschen Reich zu zerstören oder zu schwächen, sowie durch Zerstörung von Stadtkernen und Wohnvierteln die Bevölkerung zu demoralisieren. Wie später die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im Pazifikkrieg sollten sie in Europa ein schnelleres Ende von Krieg und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft herbeiführen. Die NS-Propaganda benutzte den Bombenkrieg für ihre Hetze und Durchhalteparolen, was unter anderem zu zahlreichen Übergriffen auf abgestürzte alliierte Flugzeugbesatzungsmitglieder führte.
Bei dem “Gutachter” der die Vertrauensleute in der Kaserne – Soldaten und Zivilbeschäftigte – über die Person Helmut Lent aufklärte, hieß es hingegen: “Lent habe die Zivilbevölkerung in den deutschen Großstädten vor den massiven Luftangriffen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg verteidigt”
Ein „Glorifizieren der Wehrmacht“ liegt dann vor, wenn man sich „wertneutral auf das militärische Handwerk beschränkt“ – wogegen sich ja der Traditionserlass explizit ausspricht und zusätzlich den Ansatz verfolgt “de mortuis nil nisi bene” „über Tote sprich nichts schlechtes“, wie der Landrat in einem Schriftwechsel mit Jakob Knab forderte. Bei solchen Ansätzen kommen tatsächlich strahlende Helden heraus die sich „Soldatisch nichts vorzuwerfen haben“, die „unbefleckt“ sind ( Vortrag Dehn vor den Soldaten der_Lent-Kaserne“). Dann funktioniert die „Helden-Waschanlage“ also doch und der “Held des NS Regimes“ wird zum „Helden“ der Bundeswehr. Und es würde sich der Verdacht aufdrängen, der Traditionserlass und seine Intensionen hätten am Standort Rotenburg nur eine untergeordnete Rolle.
Eine Solche Haltung erklärt dann wiederum die Wahrnehmung des Bürgermeisters,:
“Es hat, und ich bin hier in Rotenburg 1957 geboren worden, in meiner Erinnerung nicht einmal irgendetwas an glorifizierendem oder heroischem Hochhalten des Namens Lent oder seiner Person hier in Rotenburg gegeben” Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.